Auf dem Blog von “The Institute of Canine Biology” wird basierend auf der Studie “Relationship of cryptorchidism with sex ratios and litter sizes in 12 dog breeds.” (Gubbels EJ, J Scholten, L Janss, & J Rothuizen, 2009) die Frage gestellt:
Könnte Kryptorchismus auch Vorteile mit sich bringen?

Schließlich ist Kryptorchismus nicht unmittelbar tödlich und verhindert, je nach Ausprägung, auch nicht die Fortpflanzung.
Das Ziel dieser Studie war es, den Einfluss der genetischen Träger für Kryptorchismus auf die Wurfgröße und das Geschlechterverhältnis bei den Nachkommen zu ermitteln. Dazu wurden Daten von 11.230 Würfen 12 verschiedener Hunderassen ausgewertet (soweit ich herauslesen konnte, stammen die Daten aus niederländischen FCI-Zuchtbüchern).
Die Eltern dieser Würfe wurden als Kryptorchismus-“Träger” (C, carrier) eingestuft, wenn mindestens einer ihrer Nachkommen ein kryptorchider Rüde war. Anschließend wurden die Effekte bzw. Unterschiede in Verpaarungen von “Trägern” und “Nicht-Trägern” (NC, non-carrier) untersucht.
In Würfen aus C × C Eltern (Anm.: beide sind “Träger”) fanden sich eine erhöhte Anzahl von Rüden pro Wurf bei allen Rassen, eine reduzierte Anzahl von Hündinnen pro Wurf in 8 Rassen und eine erhöhte Wurfgröße in 11 Rassen im Vergleich zu den Würfen von NC × NC Eltern (Anm.: als “Nicht-Träger” identifizierte Hunde). Über alle Rassen hinweg sind die Auswirkungen auf die Wurfgröße, die Anzahl der Rüden pro Wurf und das Geschlechterverhältnis hoch signifikant. Würfe aus C × NC und NC × C (Anm.: als “Träger” und als “Nicht-Träger” identifizierte Elterntiere) wiesen diese Effekte nicht auf und unterschieden sich nicht signifikant von Würfen aus NC x NC Elterntieren.
Die Ergebnisse legen nahe, dass es einen allgemeinen genetischen Mechanismus gibt, der sowohl Kryptorchismus als auch veränderte Geschlechterverhältnisse zugunsten der Rüden verursacht und für eine erhöhte Wurfgröße verantwortlich ist – also einen reproduktiven Vorteil, einen Selektionsvorteil birgt.
Die Konsequenz daraus ist, dass eine züchterische Selektion auf größere Würfe die Bemühungen, kryptorchide Rüden aus der Population zu eliminieren, negativ beeinflusst.
Außerdem könnte man dem Vererbungsmuster ein bisschen näher auf die Spur gekommen sein, denn so ganz genau weiß man’s einfach noch immer nicht:
In CxC, an average of 24% of males were cryptorchid, in a pattern that is compatible with a simple autosomal recessive inheritance, with effects of modifier genes, gene-gene interactions, and environmental effects affecting the actual phenotypic expression in the cryptorchid animals. They did not observe any sort of “intermediate” condition in the NxC crosses.
Also im Grunde ist es so, wie in “Kryptorchismus beim Whippet” schon mal von mir geschrieben: Der Erbgang ist nicht ganz klar, polygen rezessiv/additiv scheint naheliegend und eine Beteiligung von Umwelteinflüssen scheint ebenfalls gegeben.
Das heißt, es sind mehrere Faktoren entscheidend (multifaktoriell) und es wird von beiden Elterntieren vererbt bzw. kann auch zufällig auftreten.
Zu bedenken ist, dass die Würfe in der Studie aus 2009 interessanterweise zum Teil ohnehin sehr klein waren und offenbar unter dem Durchschnitt für diese Rassen lagen. Inzucht führt über kurz oder lang zu verringerter Fertilität und damit auch zu kleineren Würfen, und sie führt natürlich auch zu einem höheren Risiko für erblich bedingte (insbesondere Immun-)Erkrankungen und “Fehlbildungen”, wie es Kryptorchismus ist. Bei Wildtieren ist der Effekt von Inzucht auf die Häufigkeit von Kryptorchismus leider gut bekannt, übrigens auch auf das Auftreten von angeborenen Herzerkrankungen – ebenfalls eine Thematik, die sehr viele Hunderassen stark betrifft! Bei Interesse teile ich gerne (leider nur englischsprachige) Links mit.
Weiters erhöht sich durch Inzucht das Risiko für Totgeburten und interessanterweise wurde der Zusammenhang zwischen Geschlechterverhältnis, Kryptorchiden und Totgeburten bei Schweinen und Hunden 2008 in dieser Studie untersucht, wobei das Auftreten von Totgeburten in Würfen mit kryptorchiden Ferkeln erhöht war.
In pig, litter size increases significantly with an increasing number of cryptorchids in a litter. The stillborn rate in pig is larger in litters with cryptorchids than in litters without cryptorchids.
Spannend!
Wie immer stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, kryptorchide Rüden aus der Zucht, aus dem Ausstellungsgeschehen und dem Sport auszuschließen (bzgl. Windhundsport: sie dürfen zwar teilnehmen, erhalten jedoch keine Titel, was die Teilnahme an riskanten Wettbewerben eigentlich zu einer überflüssigen Sache macht), nicht wenige Stimmen fordern gerade in Rassen mit einer geringen Populationsgröße einen lockereren Umgang. Ich habe dazu derzeit keine abschließende Meinung und kann nur von der Erhaltungszucht bedrohter Wildtiere sprechen – dort spielt Kryptorchismus, obwohl er leider u.a. aufgrund der erzwungenen Inzucht auftritt, eine sehr untergeordnete Rolle, denn wichtig ist allein die möglichst hohe genetische Variabilität, die Funktionalität und allgemeine Gesundheit der Tiere. Und die wird nicht zwangsweise von Kryptorchismus beeinträchtigt, je nach Ausprägung.
